Erwerb einer Fremdsprache

Im ersten Moment wird es sich so anfühlen

Als wärst du unter Wasser

Und würdest versuchen, mit den Fischen zu reden

Aber aus deinem Mund kämen nichts als Blasen.

 

Die Eindrücke um dich herum sind überwältigend und kommen niemals zur Ruhe. Wie sollst du dich bei einer Busfahrt entspannen wenn du panisch jede Haltestelle überprüfst, daran scheiterst die Durchsagen der Elektrostimme über dir zu entschlüsseln und dich das Summen der Menschen nur daran erinnert, dass dich niemand verstehen würde, wenn du jetzt Hilfe brauchst?

Die Straßen sind fremd, ebenso wie die Läden, an denen der Bus vorbeirauscht. Du versuchst zu erahnen, was sich hinter den Schaufenstern verbirgt. Was die Worte auf den Eingangsschildern bedeuten könnten.

Lavanderia, autosilo, parrucchiere, veterinario. Wie sollst du dich in diesen Straßen jemals zurechtfinden?

Alltägliche Handlungen werden zu kaum zu bewältigenden Herausforderungen.

Herzrasen wenn du einen Laden betrittst, Stottern wenn die nette Verkäuferin dich fragt, ob sie dir behilflich sein kann (oder zumindest denkst du, dass es das war, was sie gefragt hat).

Schweißausbrüche an der Kasse des Supermarkts, am Schalter der Postamts. Du wirst rot wenn du dich in rollenden Konsonanten verstrickst und siehst dich als Versager_in, wenn der zuvorkommende Kassierer sofort zu englisch wechselt.

Auf den Straßen sind all diese Menschen, die lachen und reden, in Paaren, in Gruppen und du bist alleine und hilflos. Die Wand, die dich von ihnen trennt, ist aus Worten gemacht und ausgerechnet die fehlen dir.

Es wird ein bisschen so sein wie beim Topfschlagen früher, wenn dir durch ein einfaches Tuch über den Augen plötzlich alle Sicherheit genommen wird, wenn du trotz des Kochlöffels in deiner Hand gegen Sofas und Tische knallst und dir die so bekannte Welt deines Wohnzimmers plötzlich fremd wird. Stell dir mal vor, du wärst nicht in deinem Wohnzimmer gewesen, sondern in der Ikea Filiale Berlin Tempelhof.

"Mir fehlen die Worte" bekommt plötzlich eine ganz andere Bedeutung..

Du wirst vielleicht Angst haben zu sprechen, selbst wenn du die Worte weißt, auch wenn du dir stundenlang zurechtgelegt hast, was genau du sagen wirst. Angst vor der falschen Betonung, dem falschen Artikel, einem peinlichen Bedeutungsfehler. Aber der Punkt, wo das Blatt beginnt, sich zu wenden, ist der Moment dieser Frage: Wirst du sprechen?

Der Prozess fühlt sich an, wie alles verschwommen zu sehen und langsam wird deine Sicht scharfgestellt. Als würdest du ein Buch in Hieroglyphen lesen und nach und nach beginnen die Zeichen für dich einen Sinn zu ergeben, erst eins, dann immer mehr.

 

Dein Erfolg misst sich nicht in korrekt konjugierten unregelmäßigen Verben oder komplizierten Konjunktivkonstruktionen (okay, von mir aus ein bisschen), sondern in den kleinen Momenten. Wenn jemand laut telefonierend an dir vorbeigeht und du verstehst, was gesagt wird. Wenn du das Lied, was du in den letzten Monaten schon tausendmal gehört hast beim tausendundersten Mal plötzlich verstehst.

Wenn du erst nach drei Sätzen Smalltalk "Di dove sei?" (Woher kommst du?) gefragt wirst. Wenn du ein Cornetto normale bestellst, bezahlst, dich bedankst und gehst, ohne dass irgendetwas Nennenswertes passiert ist. Wenn du ein neues Wort aus dem Kontext heraus lernst und verstehst, ohne es mit einem Übersetzer nachzugucken. Wenn du von einer Fremden nach dem Weg gefragt wirst und ihn tatsächlich erklären kannst.

Das sind die Momente, in denen du langsam aufhörst, dich verloren zu fühlen.

Eine neue Sprache zu lernen wird seltsame Dinge mit deinem Gehirn anstellen. Besonders wenn du schnell zwischen verschiedenen Sprachen wechselst. Nach einem langen Tag wo du auf der Arbeit Italienisch, mit einer Freundin aus Frankreich oder sonstwo Englisch und mit deinen Leuten von zuhause Deutsch gesprochen hast, wirst du feststellen, dass dein Gehirn nicht mehr richtig funktioniert.

Es wird Sätze ausspucken wie: "Ja, aber ich habe gehört, das Tempo soll better werden in den nächsten Tagen" (Tempo bedeutet auf Italienisch "Wetter"). Du wirst Konjugationen verwechseln, peinliche Grammtikfehler in Mutter- und Zweitsprache machen. Du wirst Sprichwörter ein-italienisieren und Neologismen gebrauchen, die vor dir ganz bestimmt niemand so kombiniert hat. Deine deutschen Freund_innen machen sich über dein wildes Gestikulieren mit beiden Händen im Videochat lustig. Deine italienischen Freund_innen über deine Pünktlichkeit.


Kann man überhaupt auf zwei Sprachen gleichzeitig leben? Eine neue Kultur für ein Telefonat aus der Heimat abstreifen oder neue Gewohnheiten sofort wieder ausmerzen wenn man nachhause zurückkehrt?

Werde ich mir die chronische halbe Stunde Verspätung, das Gestikulieren, die Wangenküsschen von einem Tag auf den nächsten abgewöhnen, sobald mein Rucksack und ich über die Grenze fahren? Und schon ist der Erwerb einer neuen Sprache eine viel tieferen Sache geworden als das Auswendiglernen von unregelmäßigen Verben.

Wenn Leute von ihrem Auslandsjahr erzählen, sind das oft nur die Geschichten von wilden Partynächten, aufregenden Beziehungen, gutem Essen und wehmütigem Abschied. Nicht die vielen Male, die es gebraucht hat bis man verstanden hat, dass die jedes Mal wieder gestellte Frage an der Kasse bedeutet, ob man Payback Punkte sammelt oder eine Mitgliedskarte hat.

Wie hart die ersten Wochen und Monate ohne Freund_innen waren. Wie seltsam es ist, sich nicht mehr klar an deutsche Straßen und Häuser zu erinnern. Die waren meistens weiß oder? Ein Haus, das nicht gelb, beige oder orange ist, habe ich seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen.


Trotzdem haben sie recht mit dem, was sie erzählen. Es gibt kaum etwas schöneres, als eine neue Sprache sprechen und verstehen zu lernen. Weil es spannend ist, die Synapsen des Gehirns in nie geahnte Richtungen zu erweitern. Weil die Menschen, die man kennenlernt und die Kultur die man erleben darf die Person verändern, die am Ende des Jahres nach Deutschland zurückkehren wird. Und weil dahinter so viel mehr steckt als nur Worte.

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Kommentare: 5
  • #1

    Sabine (Donnerstag, 08 April 2021 10:06)

    Liebe Paula, das hast Du wunderbar beschrieben. Ich fühle mit Dir und gleichzeitig fühle ich mich ziemlich weise, weil ich ahne, wie begeistert und sehnsüchtig Du von dieser Zeit schwärmen wirst, wenn Du in meinem Alter bist. Diesen Schatz kann Dir niemand mehr nehmen.�

  • #2

    Juju (Donnerstag, 08 April 2021 18:57)

    Ja verstehe ich voll. Am Anfang habe ich kein Wort von der Serie verstanden und nach drei Monaten könnte ich sogar Wortwitze verstehen. Und Daniel und ich sprechen so ein Mischmasch , dass die in Brasilien mich vermutlich nicht mehr verstehen werden #veraschando .
    Ist wirklich erschreckend wie schnell man sich wieder an alles deutsche gewöhnt. Aber ich glaube wenn man zurückkehrt dann braucht man auch nicht wieder so lange sich dort einzufinden . Das bleibt wohl im Unterbewusstsein gut hängen.

    Um beijo

  • #3

    Magnus (Donnerstag, 15 April 2021 06:14)

    Ich finde, dieser Text sollte in jedes Buch, was Fremdsprachen vermittelt, aufgenommen werden. Als Vorwort. Mega! Sprachen eröffnen neue Horizonte. Wie damals, als wir in der Grundschule das erste Mal alleine mit dem Fahrrad zu unserer besten Freund*in gefahren sind - auf einem Weg, den unsere Eltern nie mit uns gefahren sind und wir uns wie Entdecker*innen gefühlt haben. Sprachen verschieben Grenzen. In unserem Kopf und unserem Leben. Und das macht dein Text so ganz wundervoll deutlich! Vielen, vielen Dank dafür!

  • #4

    Roman (Donnerstag, 15 April 2021 13:01)

    Lieber Magnus, das habe ich exakt genau so eben gedacht. Könnte ich den 5ern vorlesen ;) Das passt wie die Faust auf's Auge, sehr schön geschrieben und so treffend!

  • #5

    Karlheinz (Freitag, 23 April 2021 18:53)

    Einfach geil!
    Aber: Stop heißt auf deutsch auch Stop! (Ja, ja, eigentlich Stopp.)
    Kein einzigster Geburtstach nich?