Wenn ich jetzt morgens durch das große Metalltor auf den Hof der Residenz für Seniorinnen und Senioren trete, fällt mein Blick sofort darauf. Ein großes blaues Gebilde, von Außen wirkt es wie
eine dieser Hüpfburgen in den Vergnügungsparks, wo die anderen Kinder früher manchmal ihre Geburtstage gefeiert haben.
Durch ein Kabel und einen Schlauch ist es an eine Maschine angeschlossen, die in stetigem Surren dafür sorgt, dass es voll aufgepumpt und aufrecht stehen bleibt. Wenn ich morgens ankomme, ist der
Eingang noch zu, mit Reisverschluss wie bei einem Zelt. Ich quatsche kurz mit Paolo an der "Rezeption", der die Leute rein- und rauslässt und für Fieber messen und Unterschriften verantwortlich
ist.
Meistens reden wir über die italienische Sprache, Dialekte, Städte, oder über meine Heimatstadt Köln, die er nur einmal vom Bahnhof aus gesehen hat. Dann bereite ich mich vor, mit doppelter Maske oder Visier, Handschuhen und einer Art Schutz-Overall, den ihr unten im Bild bewundern könnt.
Gesa nach der Arbeit - ja, das Visier beschlägt! (links) und ich oben beim Spind in voller Montur (rechts)
Und dann kommt meistens auch schon der/ die erste Besucher_in. Ich wünsche einen guten Morgen, frage, wer denn besucht wird und kläre darüber auf, dass Brillen, Uhren, Schmuck oder Ähnliches abgelegt werden müssen, bevor der Raum betreten werden kann.
Dann stehen wir beide eine Weile im Hof herum und warten auf das Eintreffen des Gastes, was sofort durch ein "Eccolo!" oder "Eccola!" (Schau, da ist er/sie!) kommentiert wird. Ich erinnere daran, dass sich zuerst gründlich die Hände desinfiziert werden müssen und dass die Maske jederzeit angezogen bleiben muss und dann schließe ich hinter der/dem Besucher_in den Reisverschluss. Vorhang zu.
Von Innen ist der Raum in ein bläuliches Licht getaucht. Zwei Stühle stehen einander gegenüber, jeweils einer auf beiden Seiten der dicken Plastikfolie, die den Raum genau in der Mitte in zwei Hälften teilt. In dieser Folie sind zwei Löcher, darin zwei Plastikschläuche, durch die man die Arme stecken kann. Es fühlt sich manchmal ein bisschen an, wie ein Besuch im Hochsicherheitsgefängnis oder wie in einer Reportage über Menschen mit totalem Imundefekt, die auf keinen Fall irgendwie in Kontakt mit der Außenwelt geraten dürfen.
Es ist der erste Ort seit mehr als drei Monaten, an dem "Menschen aus der Außenwelt" ihre Mütter und Väter, Tanten und Onkel, Brüder oder beste Freundinnen besuchen dürfen.
Was meine Hauptaufgabe bei der ganzen Sache ist, könnt ihr euch vermutlich schon denken: irgendwer muss das alles ja hinterher desinfizieren. Der offizielle Zeitplan sieht so aus: ein Termin dauert 15 Minuten, danach desinfizieren und lüften für mindestens 30 Minuten.
Also stehe oder sitze ich bei gutem Wetter draußen im Hof oder warte bei Regen und Kälte drinnen bei Paolo. Egal welche der beiden Optionen ich wähle, ich höre auf jeden Fall so grob, was in der Stanza vor sich geht. Manche Gäste haben ihre Verwandten so lange nicht mehr gesehen, dass sie sich nicht mehr erinnern und Angst vor dem/der Fremden auf der anderen Seite der Plastikwand bekommen. Manche schreien und weinen, weil sie die Situation nicht verstehen oder weil sie Angst vor dem engen blauen Raum haben.
Aber manchmal singen Gast und Besucher_in auch zusammen, lachen und halten sich an den Händen und tauschen Befindlichkeiten und Geschichten aus. Wie schön es ist, sich mal wieder zu sehen, so viel besser als sich gar nicht zu sehen, darin sind sie sich meistens einig.
"Vielen Dank fürs Kommen!", sage ich zum Abschied, bevor sich der Besuch wieder durch das Tor auf den Weg nach Hause macht.
"Danke an euch!", erwidert er/sie fast immer mit einem breiten Lächeln und dann habe ich mal wieder das Gefühl, eine tatsächlich sinnvolle Arbeit zu leisten.
Danach muss ich mich beeilen, es warten Alkohollösung und Putzlappen auf mich.
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broskibrick (Mittwoch, 10 März 2021 18:25)
Wow, das sieht echt aus wie aus einem Film. Ich find du hast das ganz toll beschrieben, an den Immundefekt musste ich auch direkt denken. Total surreal.
Karlheinz (Sonntag, 28 März 2021 19:10)
"Outbrake" in echt.
Aber die Italiener_innen sind schon ganz schön pfiffig. Hab ich jedenfalls sonst noch nicht gesehen.