Das Haus der besonderen Kinder

Das Haus der besonderen Kinder sieht von außen aus wie jedes andere italienische Haus. Es hat drei Stockwerke, Balkone, die sich um das ganze mittlere Stockwerk schließen, Fenster, die man nach außen klappen muss, hohe Wände und weite Treppenhäuser.

Ich klingele, schiebe die riesige Holztür auf, messe meine Temperatur, schreibe sie mit Uhrzeit in die Liste auf dem Tisch und trete ein.


An meinem ersten Tag bei der neuen Arbeit wurde ich, kaum hatte ich meine warme Jacke ausgezogen, vor die Gruppe gezerrt und den Kindern vorgestellt. Zwanzig riesengroße Augenpaare starrten mich neugierig an, ein paar trauten sich, schüchtern zu winken, dann brach Gelächter aus.

Ich hatte monatelang in einer Senior_innenresidenz gearbeitet und wochenlange Lockdowns hinter mich gebracht. Alles, was ich denken konnte, war: "Ich hatte ganz vergessen, dass es auf dieser Welt Kinder gibt. Wie absolut wunderbar, dass es auf dieser Welt Kinder gibt."

Dieses Haus, in dem ich seit anderthalb Monaten arbeite, steht an einer großen Piazza mit Park und Spielplatz in der Nähe von Piazza San Marco. Dorthin kommen zwischen zwei und drei Uhr nachmittags zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Kinder, um die Zeit nach der Schule miteinander zu verbringen. Auf den ersten Blick ist es einfach nur ein übermütiger bunter Haufen, aber mit der Zeit habe ich gelernt zu sehen, was ihnen manchmal fehlt und wo sie Unterstützung brauchen.

Ihre Einschränkungen gehen von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten über Trisomie 21, Entwicklungsverzögerungen und epileptische Anfälle. All das musste ich für mich selbst herausfinden. Eigentlich ist es genau richtig, die Kinder nicht als Diagnosen zu betrachten, aber ein bisschen Einweisung bei wem was passieren kann und was ich dann tun soll wäre vielleicht ganz nett gewesen. Aber so war es eben ein stetiges Lernen und besser Verstehen.

Zum Beispiel, dass Alter in diesen Konstellationen absolut egal ist. Das war das erste, was mir unmittelbar auffiel und was mich in den ersten Tagen Zeit gekostet hat, um mich daran zu gewöhnen. Bis dahin war das Alter für mich keine wichtige, aber trotzdem eine sinnvolle Kategorie um Situationen und Verhalten einzuschätzen, Entwicklung nachzuvollziehen. Hier könnte Alter keine geringere Rolle spielen.

Die Kinder sind zwischen 12 und 20 Jahre alt. Es ist öfter vorgekommen, dass ich mit ein paar Jungs und Mädchen Spiele gespielt habe und sich früher oder später diese Konversation entwickelte:

"Paula?"

"Ja?"
"Hast du schon Kinder?"

"Nein."
"Hast du einen Ehemann/ Verlobten?"

"Nein."

"Oje! Aber du bist doch schon so alt!"

"Bin ich gar nicht, ich bin achtzehn! Wie alt bist du denn?"
Und dann sagte das kleine Mädchen, das mir bis zum Bauchnabel reicht, das flucht und herumrennt und unkontrolliert kichert, das sich prinzipiell nie an Spielregeln hält und an mir hängt sobald ich das Haus betrete, dass sie siebzehn ist und die Jungs, die mir jünger als mein kleiner Bruder vorgekommen waren, sind neunzehn und zwanzig.

Wenn das Wetter gut ist und die Zone es erlaubt, können wir nachmittags auf den Spielplatz gehen. Wir spielen Ball mit den anderen Erziehern, ich reiche Hände um auf Spielhäuser zu klettern, ermutige ängstliche Gesichter oben am Rand der Rutsche und fange sie unten wieder auf.

Es gibt ein Mädchen, das kaum spricht und lacht. Sie steht immer stocksteif am Rand des Raumes, drückt sich um größere Ansammlungen von Kindern herum und starrt mit großen Augen jede_n an, der/ die sich ihr nähert. Aber seit sie sich an mich gewöhnt hat, fängt sie mich manchmal ab, in dem sie meine Hand sehr fest greift und mich etwas abseits zieht.

An einem Nachmittag haben wir eine Entspannungsübung gemacht, den Raum abgedunkelt, eine Duftlampe angemacht und eine Traumreise gehört. Sie saß zwischen mir und der Erzieherin, die die Traumreise leitete auf einem Sofa und plötzlich fing sie an, unkontrolliert zu zucken. Die Erzieherin flüsterte mir zu, ich müsse sie jetzt beruhigen und das würde nach einer Weile vorbei gehen, also nahm ich das manchmal zuckende manchmal vor Erschöpfung wegdösende Mädchen in den Arm bis alles abgeklungen war. Am Abend dieses Tages wurde mir erklärt, dass sie epileptische Anfälle hat. Das hätte ich auch im Vorhinein gerne gewusst.

Nach der Aktivität, die Traumreisen, Spielplatzausflüge oder Filme sein können, gibt es die "Merenda", ein Teil der italienischen Kultur, der mir bisher auch unbekannt war. Es ist quasi die italienische Teatime. Tee und Brötchen oder Kekse.

Danach werden Hausaufgaben gemacht. Wer keine machen muss kann spielen.

Wenn abends nichts mehr zu tun ist räume ich die Küche auf, wische über Tische und Stühle und wenn dann noch Zeit ist setze ich mich zu dem Mädchen, das immer zuletzt abgeholt wird und spitze, während sie malt, abgebrochene Buntstifte an bis mir die Finger wehtun.

Vor ein paar Wochen habe ich zum ersten Mal ein Mädchen komplett alleine bei den Hausaufgaben unterstützt und auch da habe ich wieder gemerkt, wie wenig ich weiß. Ihre Aufgabe war, auf gemalten Backblechen diejenigen auszumalen, auf denen genau acht Cornetti lagen und danach die Nummer acht schreiben zu üben. Ich habe bestimmt zwanzig Minuten mit ihr gemeinsam geübt, gezählt und gemalt und versucht, zu erklären, welche Bewegung das Handgelenk machen muss, um eine acht zu zeichnen..

Bis mich irgendwann eine Erzieherin zur Seite genommen und mir freundlich erklärt hat, dass sich nichts ändern wird und dass dieses Mädchen die Nummer acht nicht schreiben lernen wird und ich lieber mit ihr ausmalen und quatschen soll.

Es ist nicht immer leicht, zu akzeptieren, dass ich nicht helfen kann. Ich kann nur da sein und meine Zeit mit ihnen verbringen. In meinen Aufgabenbereich fallen Uno spielen, Brötchen schmieren, Schuhe zubinden und Tische decken, Hände halten und ausgemalte Mandalas loben, verhindern, dass gewisse Jungs aus Jux ihre Teebeutel aufessen, animierte Kinderfilme auf Italienisch gucken und immer wieder über meine Schulter rufen "Tira su la mascherina!" (Zieh die Maske hoch!)

Ich lerne immer noch wie diese Arbeit funktioniert und was ich tun kann, um eine Hilfe zu sein und am Ende dieses Jahres habe ich bestimmt noch nicht ausgelernt. Aber dafür, dass alles so gekommen ist und ich diese Erfahrungen machen durfte bin ich sehr dankbar.

 

Die andere Einrichtung mit Kindern und Jugendlichen ist ganz anders, davon erzähle ich euch ein andern mal.  Bis dahin machts gut, haltet die Ohren steif und Arrivederci!

Zwei wundervolle Geburtstagskinder seit dem letzten Mal.. Erst einmal mein liebes Cousinchen Julia! Fühl dich ganz fest umarmt; ich kann es kaum erwarten, wieder mit dir und unseren Mädels die ganze Nacht durch zu tanzen.

Und dann mein liebstes Brüderlein, das heute Geburtstag hat!! Noch habe ich dich vor lauter Online-Unterricht nicht ans Telefon bekommen, aber das schaffe ich schon noch, keine Sorge. Es gibt niemandem, dem ich mein altes Zimmer und das kleine Bad lieber überlassen hätte und ich freue mich wahnsinnig darauf, dich als Gesprächspartner und Quatschmacher in allen Lebenslagen an meiner Seite zu haben. Ich bin so gespannt, was du noch so alles anstellen wirst. Fühl dich fest umarmt von deiner peinlichen großen Schwester <3

 

Das Bild ist übrigens von unserem Bahnhof am Stadtrand, der raus aus der Stadt und in die Hügel der Toskana führt.. Was wir da gemacht haben? Das ist eine andere Geschichte.

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Kommentare: 2
  • #1

    Juju (Samstag, 06 Februar 2021 09:31)

    Toller Eintrag. Ich bin jetzt was verwirrt: du arbeitest in zwei Jugendeinrichtungen? Erzähl mir später davon ! Beiji

  • #2

    Karlheinz (Mittwoch, 17 Februar 2021 09:18)

    Gänsehaut.