Liebes Jahr 2020,
du solltest es werden. Das Jahr. Das Jahr, in dem sich alles verändert.
In dem ich Herausforderungen meistere und Abenteuer erlebe, in dem ich Menschen kennenlerne, die mein Leben prägen werden. In dem ich Erinnerungen sammele, die ich bis an mein Lebensende nicht vergesse.
Ich wollte so viel, ich hatte eine meterlange To Do List geschrieben, die Dinge wie Straßenmusik, Festivals und WG Parties beinhaltete. Meine Neujahrsvorsätze waren feiern, singen und tanzen. Ich war so bereit für das Leben, für die weite Welt und als ich schließlich am Ende der großen Treppe zur Freiheit stand gingen von einem Tag auf den anderen alle Türen zu.
Liebes Jahr 2020, wer bin ich überhaupt, dass ich mir anmaße, an dich zu schreiben, wo ich doch in einer so unselbstverständlich sicheren und luxuriösen Position bin, nicht um meine Gesundheit, meine Sicherheit, meine Lebensgrundlage bangen muss?
An das vergangene Jahr zu schreiben ist üblicherweise sehr persönlich, von privaten Erfolgen und Misserfolgen geprägt. Was habe ich mir vorgenommen, was geschafft oder nicht geschafft? Habe ich Sport gemacht, gesund gegessen, viel gelesen? Aber dieses Jahr ist nicht meine private kleine Geschichte, sondern global, gesellschaftlich, politisch, von Konflikten und Ungerechtigkeiten durchzogen, wie kann ich es also wagen, an dich zu schreiben?
Weil es eben doch persönlich ist, weil dieses Jahr wie jedes andere auch aus milliarden Perspektiven und Puzzleteilen besteht.
In diesem Jahr habe ich Abitur gemacht.
An meinen letzten Schultagen war das Schulgebäude leer bis auf uns. Unsere letzten Anweisungen für die Abiturvorbereitung kamen erst durch Masken, dann über Emails und dann über den Videochat. Faust diskutieren über pixelige Bildschirme und verzerrte Stimmen.
In der "Lockdown"-Zeit im Frühling habe ich aus neun dicken Wollknäueln einen Pullover gestrickt. Ich habe mir von meinen technikaffinen Freund_innen erklären lassen, wie man online Karten- oder Brettspiele spielt und nach meinen Lerntagen abends mit ihnen gequatscht und gelacht, als wäre alles wie immer. Als wir uns im Sommer in einer kleinen Gruppe tatsächlich wieder treffen durften, hatten wir alle fast vergessen, wie es ist, wenn man die Karten beim Sechs Nimmt spielen tatsächlich mischen muss und sie nicht in sekundenschnelle von einem Zufallsgenerator zugeteilt bekommt..
Mein Abiball hat nicht in einem großen Saal mit runden Tischen und Tanzfläche stattgefunden, sondern auf dem riesigen Parkplatz vor dem Märchenwald, als Autokino. Wir sind mit Mindestabstand auf die Bühne gekommen und haben unser Zeugnis entgegengenommen.
Ich diesem Jahr bin ich ins Ausland gezogen.
Mit Maske in den Fernbus und über Nacht in das große Abenteuer, weswegen ich diesen Blog überhaupt erst begonnen habe. Ich habe mit älteren und kranken Menschen gearbeitet, für deren Sicherheit und Gesundheit ich mich in diesem Jahr mehr als jemals sonst verantwortlich gefühlt habe.
Ich habe öfter ein Stäbchen zum Coronatest in den Rachen gesteckt bekommen als ich zählen kann. Ich habe begonnen, eine Sprache zu lernen, die mir durch Masken und über Bildschirme nahegebracht wurde.
In diesem Jahr habe ich einen Lockdown erlebt.
Ich habe erlebt, wie es sich anfühlt, das Haus wochenlang nicht wirklich verlassen zu dürfen. Wie alles, was mir unerschütterlich schien, sich innerhalb von Stunden und Tagen in etwas völlig anderes wandelte. In diesem Jahr brauchte ich keinen Kalender. Was war der Sinn vom Planen?
Meine Vorsätze für das nächste Jahr? All das, was ich mir auch gestern und vorgestern und jeden Morgen aufs neue vorgenommen habe:
1. Initiative ergreifen.
Wenn ich nichts tue, passiert nichts. Weiter lernen und den Horizont erweitern, auch wenn es von außen nicht mehr so viele Möglichkeiten gibt. Wenn ich noch einmal wochenlang zuhause bleiben müsste, weiß ich diesmal, was zu tun ist: trotzdem lesen, lernen, Ukulele spielen, kochen, Sport machen.
2. Nicht mehr warten.
Ich habe lange genug auf alles mögliche gewartet. Darauf, dass dieser oder jener Abgabetermin hinter mir liegt, darauf dass ich mein Abi habe und endlich "frei" bin, darauf, dass der Lockdown oder gar Corona hinter mir liegen. Ich will nicht mehr warten, sondern leben.
3. Nie aufhören, die Welt, die sich jetzt entwickelt und die Situation, die sich hoffentlich weiterhin stetig bessern wird durch Post-Corona Augen zu sehen.
Vielleicht das einzige einfach Schöne, was wir aus dieser bescheuerten Zeit mitnehmen können: Wie absolut großartig es ist, einen Kaffee trinken, ins Kino, Theater, Museum oder auch nur auf die Straße gehen zu können. Wie unselbstverständlich es ist, liebende Familien und Freund_innen zu haben, um deren Gesundheit man nicht Rund um die Uhr besorgt ist. Offene Grenzen und Reisemöglichkeiten zu haben. Oder ohne Maske im Zug zu sitzen.
Wenn wir alle irgendwann unseren Alltag wieder haben, möchte ich so lange wie ich irgendwie kann mit riesigen Augen und strahlendem Lächeln durch mein Leben laufen und so Sachen denken wie: "Das ist ja abgefahren! Ein lauthals singender Straßenmusiker ohne Maske. Verrückt! Da ist ein knutschendes Pärchen in der U-Bahn! ..."
Aber jetzt 2020, wo du endlich vorbei bist, will ich dich manchmal am liebsten abschütteln, loswerden, nicht mehr an dich denken, weil es oft so schwierig war.
Aber das wäre unfair. Denn du warst es. Das Jahr.
Das Jahr, in dem ich Herausforderungen gemeistert und Abenteuer erlebt habe. In dem ich Menschen kennengelernt habe, die mein Leben prägten und prägen werden. Ein Jahr, in dem ich Erfahrungen
gesammelt habe, die ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde.
Und jetzt weg mit dir. Auf ein neues Jahr.
Liebe Grüße
Paula
Ein Bild aus jedem Monat.
Uuuuund es gab zwei Geburtstagskinder zwischen den Jahren. Alles Liebe und Gute an Sanne und Sophie!
Liebe Sanne, du bist die beste Kreuzworträtslerin, unverschämteste Scrabble-Spielerin und liebste Nicht-Patentante-Aber-Irgendwie-Doch-Sowas-In-Der-Art, die ich mir nur wünschen könnte. Danke, dass ich immer willkommen war, danke für schöne Ausflüge, Ferien und Wochenenden und für viele viele Liter Reismilchkakao..
Liebe Sophie, es tut mir sehr leid, dass wir deine Ukulele benannt haben, du weißt, dass sie auf ewig diesen Namen tragen wird ;) Deine Briefe lachen mich immer aus dem Postkasten an und machen meinen Tag viel schöner. Hab ein großartiges neues (Lebens)Jahr voller lieber Leute, die genauso kreativ und wunderbar sind wie du!
Ein Frohes Neues Jahr euch allen! Danke, dass ihr immer noch da seid :) Lasst gerne ein Lebenszeichen da. Wenn ihr 2020 in drei Worte packen müsstet, welche wären es? Ich freue mich auf eure
Kommentare ;)
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Sabine (Sonntag, 03 Januar 2021 17:47)
stand by
Zoom
Drosten
aber auch: Video School, Empty Nest, Renovieren�
Liebe Paula,
das ist ein wunderbarer Brief. Ich bin sehr gespannt, was das Jahr 2021 Dir antwortet� Oder vielleicht kann 2020 auch noch schreiben?
Minihinweis zum Anfang: Ich frage mich, wie es im Indikativ klingen würde: Das Jahr, in dem sich alles verändert. Das mehrmalige “würde” liest sich sperrig. Indikativ rockt. Oder?
Umarmung, Sabine
Karlheinz (Samstag, 09 Januar 2021 12:47)
Perspektive
Superkollektiv
Spaziergänge
Bei so viel lächelnder Paula, selbst hinter der Maske zu erahnen, kann das Jahr garnicht sooo schlecht gewesen sein...
StalkingFritz (Mittwoch, 31 März 2021 00:45)
Dein Brief war einfach richtig schön zu lesen! Tanto di capello (?!) :D
Das mit der Straßenmusik ... nehmen wir nachträglich in Angriff