Erzähl mir vom Licht

Eine Tür fliegt auf. Sie führt in einen Hinterhof mit grauen Mauern und grünen Grasflächen, umgeben von hohen weißen Gebäuden mit endlosen Fensterreihen. An den Wegrändern, die zwischen den einzelnen Bauten hin und her führen, verwilderte Beete und wuchernde Büsche, um die sich seit dem Frühling niemand mehr gekümmert hat.

Der Himmel ist grau, manchmal bricht eine grellweiße Herbstsonne durch die schweren Wolkenfetzen und verbreitet ein fast klinisches Licht.

Mit dramatisch großen Schritten stürmt sie den Weg entlang und bleibt auf halber Strecke zum Histopathologie Gebäude stehen. Sie weint so sehr, dass sie nicht sagen kann, ob es an den Tränen liegt, dass die Sonne heute nur ein greller Fleck zwischen grauen Schemen ist.

Sie atmet schwer, kämpft an gegen ein wütendes Schluchzen, weil es nichts bringt, weil es nicht hilft gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Grausamkeit des Lebens. Denn es ist grausam, denkt sie, während sie nun doch laut schluchzt und ein Taschentuch aus ihrer Handtasche zerrt. Grausam, sinnlos und ungerecht!

"Hallo." Eine leise Stimme direkt hinter ihr; sie wirbelt herum. Auf der Mauer rechts vor der Eingangstür sitzt ein Junge, neben einem Mülleimer, um den sich Zigarettenstummel verteilt haben. Sie blinzelt; er sitzt nur zwei Meter von ihr entfernt und ist ihr nicht aufgefallen. Klein und schmal ist er, der Körper ein bisschen zu mickrig für sein ernstes fast erwachsenes Gesicht.

"Was ist es?" Auch seine Stimme ist gleichzeitig zu jung und zu alt für ihn, hell wie die eines Kindes und erschöpft wie die eines uralten Mannes. "Was ist was?", fährt sie ihn an, während sie sich neue Tränen aus den Augenwinkeln wischt. Ihren pinkfarbenen Nagellack, den sie letztes Jahr von ihrer besten Freundin geschenkt bekommen hat, kann sie kaum noch von ihren zitternden Fingern unterscheiden.

"Was ist es, weswegen du so traurig bist?" Seine ruhige Stimme ist Spiritus in dem verzweifelten Feuer ihrer Wut.

"Mein Leben ist vorbei!" Ihre Stimme hallt durch den verlassenen Hinterhof und scheucht einige Krähen auf, die sich als verschwommene schwarze Flecken laut krächzend in den Himmel schwingen.

"Ich werde blind, in weniger als drei Monaten werde ich nichts als endlose Dunkelheit sehen! Ich kann mein Studium vergessen: das nächste Semester werde ich nämlich damit verbringen, zu lernen, mich als Krüppel zurechtzufinden, ohne dass ich gegen den nächsten Baum laufe! Ich werde keinen Freund finden, keinen Job und ich werde in irgendeinem dunklen Pflegeheim vor mich hinvegetieren, bis ich an Vitamin D Mangel sterbe!" Er schweigt.
"Aber was verstehst du schon davon, du bist ja noch ein Kind. Das hier hat doch eh alles keinen Sinn.."

Er lässt sie reden und als sie an ihm vorbei zur Tür hetzt und sie aufreißt hält er sie nicht auf, aber plötzlich stoppen ihre Schritte, das kann er hören, und die Tür fällt wieder ins Schloss, ohne dass sie den Hinterhof verlassen hat.

Sie starrt ihn an. Nur verschwommen erkennt sie die Konturen seiner dunkelblauen Winterjacke, wohl aber die leuchtend gelbe Binde an seinem Arm, so grell, dass man sie schlecht übersehen kann und mit drei kleinen dunklen Punkten darauf..

Entschuldigung, will sie sagen, aber es kommt kein Ton über ihre Lippen. Es ist, als hätte ihre Stimme sie nun auch noch im Stich gelassen. "Wie.." sie räuspert sich. "Wie lange schon?"

"Mein ganzes Leben." Im Gegensatz zu der ihren ist seine Stimme fest und sicher, nur ein bisschen traurig klingt sie. "Ein seltener Gendefekt. Meine Eltern waren völlig am Ende."
"Es tut mir leid." Endlich rollen die Worte über ihre Zunge und sie fühlt sich so klein neben diesem Winzling auf der Mauer. Er schweigt lange; dann atmet er tief ein und sie hat das Gefühl, sein Inneres sehe sie jetzt an. "Erzähl mir vom Licht!"

Ein erschrockenes Schweigen. Dann lacht sie, kurz und verlegen. "Das kann ich nicht. Ich weiß doch gar nicht, wie man das jemandem beschreibt, der noch nie.. ich meine -"

"Bitte", sagt er. "Versuch nicht, irgendetwas zu beschreiben, erzähl einfach." Sie seufzt. "Ich komme vom Land.", sagt sie dann und ihre Stimme klingt ein bisschen rau. "Meine ganze Kindheit lang war mein liebstes Licht der Sonnenaufgang im Herbst wenn ich mit dem Bus in das nächste Dorf zur Schule gefahren bin. Wie die Sonne über den noch grünen, aber schon mit Raureif überzogenen Fenstern leichtete und ihre Strahlen sich in den Baumspitzen des angrenzenden Waldes brachen.." Er wartet. Er hört zu. Noch nie hat ihr jemand so zugehört.

"Ich bin immer gerne geschwommen.", erzählt sie weiter und schließt die Augen, damit sie die unscharfe Welt um sie herum nicht mehr sehen muss. "Unter Wasser wird das Licht nur noch ein mysteriöses Schimmern. Wenn du ohne Brille schwimmst, siehst du nicht mehr scharf, nur noch die Umrisse des Beckens und das Schimmern des Lichts, was auf das Wasser fällt. Wenn Sonnenlicht auf dem Meer glitzert, sieht es aus, als würden darin tausend Sterne funkeln. Licht an klaren Wintertagen ist so sauber und kalt, dass die Welt wie frisch gewaschen aussieht. Wenn es dunkel wird, kommen andere Lichter. Warmes gelbes Nachttischlampenlicht oder Kerzen, die flackernde Schatten an die Wände werfen. Wenn ich nachts in der Stadt, wo ich jetzt lebe, nachhause laufe, ist alles um mich herum aus Meer aus Lichtern. Grüne und rote Ampellichter, bunte Werbeanzeigen und blinkende Scheinwerfer, Lichterketten und ausgeleuchtete Ladenfenster. Zuhause war es nur der Mond und das blasse Straßenlaternenlicht, das mich auf dem Nachhauseweg begleitet hat.. Mondlicht ist etwas ganz besonderes, es ist silbern und kühl, aber so wunderschön..."

Sie öffnet die Augen wieder und Tränen treten hinein, als sie merkt, dass sie das Schild über der Tür, aus der sie gekommen ist, nicht mehr lesen kann. Ophthalmoonkologie und Ophthalmoplastik. Wie oft sie sich diese Worte in den letzten Wochen durchgelesen und eingeprägt hat. Bei dem Termin vor zwei Wochen ging es noch.

"Danke", sagt er ganz ruhig. Sie schluckt schwer bevor sie anwortet. "Erzähl mir von deinem Licht. Was siehst du? Wie kann man leben, wenn man sein Licht verloren hat?" Sie sieht sein Gesicht nur verschwommen, aber sie meint zu erkennen, dass er lächelt.

"Viele, die nichts mit Blinden zu tun haben, denken, wir würden schwarz sehn, nichts als Dunkelheit. Vielleicht weiches stumpfes schwarz wie samt oder glänzend wie die Oberfläche eines Klaviers.." -

"Woher..?"

"Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mir von euer Welt erzählen zu lassen, zuzuhören wenn Leute sie beschreiben, bis ins kleinste Detail.", sagt er wehmütig. "Ich sehe nichts. Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber es ist so. Nichts, was mir bis heute beschrieben wurde ist etwas, das ich nachvollziehen kann, weil mir das Sehen fehlt, nicht das, was gesehen wird."

Von oben aus einem offenen Fenster dringen aufgewühlte Stimmen und sie meint, die ihre Mutter darunter zu erkennen, aber sie blendet es aus, denn sie will hören, was er sagt. Zum allerersten Mal hat sie das Gefühl, jemand versteht, jemand kann helfen.

"Das Licht, das du kennst, wird nicht genug sein, denn es wird dich verlassen. Die Erinnerungen daran werden bleiben, aber es wird aus deinem Leben, deiner Wahrnehmung verschwinden und da ist nichts, was du dagegen tun kannst." Es klingt wie ein Satz, den er sich selbst nur tausendmal gesagt hat, in unendlich vielen dunklen Stunden.

"Aber da ist noch ein anderes Licht, du musst nur..." Sie hört ihn schmunzeln. "Du musst nur genau hinsehen. Was du verlieren wirst, nennen sie dein Augenlicht, aber wenn du es nicht mehr hast, hast du dein Licht nicht verloren. All das, was du mir gerade erzählt hast, ich konnte es nicht sehen, ich konnte es fühlen, viel klarer als es Menschen sehen können. Dein Licht kommt nicht von einem Stern, um den wir uns mit rasender Geschwindigkeit drehen, es geht auf wenn du dich erinnerst, wenn du dankbar bist, wenn du lebst. Mit jedem Tag, der vergeht, wirst du es deutlicher sehen und mit jedem Licht von anderen, das dir begegnet, wirst du heller leuchten, durch deine eigene Dunkelheit und erkennen, dass du alles, was du sehen musst, fühlen kannst."

Sie nickt weil sie nichts sagen kann, bevor ihr auffällt, dass er das nicht sieht. Aber dann glaubt sie, dass er spürt, was sie nicht aussprechen kann. Schritte poltern. "Marie? Bitte komm, es hat doch keinen Sinn, davor wegzulaufen."

"Ich komme, Mama!" Ein letzter verschwommener Blick. Sie weiß nicht einmal seinen Namen. Sie greift nach seiner Hand, alles Wichtige kann sie fühlen; sie ist klein und kühl. "Danke." Mehr gibt es nicht zu sagen.

Er hat ihr vom Licht erzählt.

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Kommentare: 3
  • #1

    Julia (Sonntag, 06 Dezember 2020 13:19)

    Wunderschön. Eine sehr berührende Geschichte. Danke fürs Teilen . *Eine virtuelle Umarmung an dich.

  • #2

    Phiechen (Sonntag, 06 Dezember 2020 13:48)

    Sehr, sehr schön geschrieben :) Danne das du das geteilst hast. Ganz viel Liebe<3

  • #3

    kleiner Hinweis (Sonntag, 06 Dezember 2020 13:53)

    Im ersten Teil hinter "Was ist was?" steht färht und nicht fährt;)