Einen frohen ersten Advent, ihr Lieben!
So hat meine Adventszeit begonnen - geschlossene Läden, leere Straßen voller Lichterketten, die niemand bewundern kann. Die Wiesen noch grün, die Temperaturen nicht einmal ansatzweise so kalt, wie ich es gewohnt bin. Sie ist in keiner Weise wie sonst, diese Zeit und trotzdem fühlt es sich irgendwie vertraut an, wenn die Küche nach Zimt und Nelken riecht, wenn überall Mandarinen herumliegen und wenn dieselben furchtbar kitschigen Weihnachtsklassiker herausgekramt werden..
Gestern nachmittag bin ich mit je einem Kilo Mandarinen und Orangen vom Markt gekommen und habe mit Gesa so viele Orangen gegessen, dass wir danach Bauchweh hatten. Am Wochenende haben wir Zimtschnecken gebacken - für geschmacksverirrte Individuen, die ungenannt bleiben sollen, auch ein paar ohne Zimt. In meinem Zimmer hängen Adventskalender, die mir von euch wundervollen Menschen zugeschickt wurden.. Ein bisschen ist es also wie immer.
Und besonders und schön ist es trotz allem. Wir hängen Lichterketten und Holzsterne auf, bald gibt es hier auch eine große Fensterdeko-Bastel-Aktion. Und wir haben alle drei beschlossen, über Weihnachten hier zu bleiben, weil wir die notwendigen Quarantänetage in Deutschland von unseren sehr begrenzten Urlaubstagen abziehen müssten und planen jetzt begeistert das Weihnachtsessen - eine Fusion aus drei Familientraditionen - wenn das mal gut geht!
Arbeiten dürfen wir immer noch nicht. Dafür haben wir jetzt einige andere mehr oder weniger regelmäßig anfallenden Aufgaben. Nach wie vor Geheimagentinnen-Einkaufen, aber jetzt auch "Botengänge" zum Gesundheitsamt und Besuche bei dem älteren Paar nebenan.
Die beiden sind Mitte neunzig und haben seit einem Jahr ihr Haus nicht mehr verlassen. Sie ist fast blind und hört sehr schlecht, ist aber sehr gesprächig, er ein eher ruhiger zurückhaltender, aber sehr freundlicher Mensch. Wenn ich bei ihnen im Wohnzimmer sitze, mit Maske und auf Abstand, erzählt sie mir manchmal von ihrer Jugend im Norden Italiens, ihrem Studium und ihrem Garten mit den Blumen, aber manchmal auch vom Krieg, wie sie nach Österreich geflohen und kein Wort verstanden hat, obwohl sie Deutsch in der Schule hatte. Oft erzählt sie Sachen zwei mal oder bringt mich mit ihrer Offenheit trotz Vergesslichkeit in Verlegenheit. "Wir hatten in Italien Faschismus.", sagt sie dann. "Wie war das denn nochmal bei euch in Deutschland?"
Für solche Gespräche reicht mein Italienisch nicht aus!!, denke ich dann panisch, aber irgendwie haben wir es bisher immer hinbekommen. Sie freut sich, jemanden zum Reden zu haben, sagt sie und wenn sie seufzend sagt, wie schwierig es ist, alt zu sein, weiß ich oft gar nicht, was ich sagen soll. Aber wenn ich am nächsten Tag wieder durch die Tür komme, strahlt sie mich an, also scheint es nicht allzu verkehrt zu sein. Die beiden sind mental viel fitter als die Gäste drüben, deshalb habe ich in der letzten Woche mit ihnen so viel am Stück Italienisch gesprochen wie noch nie. Und dass ich so viel verstehe, trotz schwieriger Themen ist echt eine Motivation.
Trotzdem ist die Tatsache, dass die beiden ihre Wohnung seit einem Jahr nicht mehr verlassen haben ein Gedanke, der mich verfolgt. Es ist schön zu wissen, dass wir jetzt da sind und ein paar mal die Woche vorbeischauen, aber die Konfrontation mit dieser Lebensrealität macht mich betroffen. Sie rückt meine Wahrnehmung in eine andere Richtung, wenn ich daran denke, wie absolut wahnsinnig ich im Frühling geworden bin, weil die ungewöhnlichsten Ereignisse meiner Tage Erfolge beim Mathelernen und Spaziergänge durch die burscheider Wälder waren..
Ich weiß noch nicht sicher, was meine Erkenntnis aus dieser Beobachtung ist, denn ich kann mich sicher nicht immer wenn ich unter Corona leide mit den Beiden vergleichen und dann sagen, "reiß dich halt zusammen, dir geht es nicht am schlechtesten".
Aber die Arbeit hier und die unmittelbare Konfrontation mit den Menschen, die ich und wir alle durch unser Verhalten zu schützen versuchen, hat sehr beeinflusst, wie ich jetzt mit der Situation umgehe und es mir irgendwie leichter gemacht, mein Leben allen neuen Einschränkungen anzupassen.
Gestern habe ich mir, beladen mit Markteinkäufen, eine Stunde vorm Postamt die Beine in den Bauch gestanden - manche Dinge sind in Deutschland und Italien wohl ganz gleich. Nächstes Mal nehme ich mir zusätzlich zum Buch noch einen Tee mit, nachmittags um halb fünf wenn die Sonne langsam untergeht wird das nämlich doch echt kalt..
Aber das ist alles nicht das Wichtigste, was es zu erzählen gibt: AB FREITAG DEN VIERTEN DEZEMBER IST DIE TOSKANA WIEDER ORANGENE ZONE!! Das heißt: DER LOCKDOWN HAT EIN ENDE!!!
Klar ist es trotzdem nicht super, und immer noch eingeschränkt wie sonstwas, aber das Gefühl, mein Haus jederzeit (außer Nachts) ohne schlechtes Gewissen und ohne Grund verlassen zu können ist einfach Wahnsinn! Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich mal sowas sagen würde.
Das ist also die gute Nachricht, die uns seit letztem Wochenende Hoffnung, ein bisschen mehr Leichtigkeit und gute Laune beschert hat. Kurz bevor wir in den Lockdown gegangen sind hat mir eine liebe Freudin bewusst gemacht, wie unendlich wichtig gute Nachrichten sind. In jeder Lebenslage, in jedem Jahr, auch in diesem brauchen wir gute Nachrichten und Hoffnung wie Luft zum Atmen.
Advent, eigentlich genau die richtige Zeit, um das zu erkennen.
Heute ist der erste Regentag seit Langem, ein Tag zum Tee trinken und lesen. Wir haben schon eine riesenlange Einkaufsliste für Freitag wenn wir endlich wieder rausdürfen. Wer weiß, mit etwas Glück könnte das hier der letzte richtige Lockdown sein. Für diese Zeit in Italien, für die Zeit mit Corona, für den Rest meines Lebens vielleicht? Eine unglaubliche Vorstellung.
Es ist ein unheimliches Gefühl, zu hoffen. Wie sich an einem Ast festzuhalten, von dem man nicht weiß, ob er halten wird oder auf gefrorenes Eis zu treten, von dem man nicht weiß, ob es brechen wird. Bei euch in Deutschland wird schon über Impfstoffzulassungen und Beginn der Impfungen im Januar diskutiert. Ich verfolge die Nachrichten und versuche, meine Hoffnungen kleinzuhalten.
Ich wurde von einigen auch in letzter Zeit wieder gefragt, ob ich darüber nachdenke, abzubrechen. Nachhause zu fahren und mir für den Rest des angefangenen Jahres was anderes zu suchen.
Die Wahrheit ist, ich habe vor Wochen das letzte Mal darüber nachgedacht, nach Hause zu fahren, bevor die Dinge schlimmer wurden. Ich hatte so große Angst vor dem Lockdown und die Vorstellung des "Corona-Winters" im Ausland weit weg von allem Vertrauten war mir unerträglich. Aber dann wurde alles schlimmer und mir ging es trotzdem okay.
Alleine und frustriert und ungeduldig wäre ich auch in Burscheid, erst Recht in Burscheid :D
Aber hier habe ich eine sinnvolle Tätigkeit, eine neue Sprache, die es zu lernen gilt und neue Lebenssituationen, die ich kennenlernen kann. Für mich persönlich wäre es nicht das Richtige, jetzt zu gehen und mir die Chance auf so viel Neues zu nehmen und vor allem die Aussicht auf einen Frühling und einen Sommer, die (hoffentlich hoffentlich) leichter werden als die in diesem Jahr. Wenn mir 2020 eins beigebracht hat, dann dass furchtbare Zeiten genau wie alle anderen Zeiten nicht unendlich sind und dass schwierige Zeiten das Leben nicht weniger lebenswert oder weniger wunderbar machen.
In diesem Jahr, in diesem Sommer sowieso, aber sogar in den letzten drei Wochen Lockdown gab es Ereignisse, Situationen, Menschen, Erkenntnisse, die ich nicht missen möchte. Und wenn es sie sogar jetzt gab, dann bin ich hier wo ich gerade bin genau richtig.
Am Sonntag gibt es übrigens eine Premiere, für mich und für euch, ich möchte nämlich eine Kurzgeschichte hochladen, die ich vor einer ganzen Weile geschrieben habe, die aber ganz gut in die gemütliche Jahreszeit passt.
Macht es gut, habt einen schönen Abend und fühlt euch gedrückt!
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Karlheinz (Montag, 28 Dezember 2020 11:21)
Klammer dich ordentlich fest, das Eis wird schon halten!