Schwierige Zeiten bei gutem Wetter

Dieses Mal grüße ich das Geburtstagskind ausnahmsweise nicht aus weiter Ferne, sondern nur vom Zimmer gegenüber. Denn gestern hatte meine liebe Mitbewohnerin Gesa Geburtstag!

 

Wie verrückt, dass wir jetzt, nachdem wir uns unser ganzes Leben nicht kannten, alles teilen und gemeinsam durchleben. Ich bin froh und dankbar, dich kennengelernt zu haben und weiter kennenzulernen! Auf dem Bild sieht man fast die ganze Innenstadt, diese neue Stadt, die wir drei zusammen erkundet haben und ich hoffe so sehr, dass wir das noch eine ganze Weile lang tun.

Spätsommerfeeling auf unserem Balkon
Spätsommerfeeling auf unserem Balkon

Jetzt erst habe ich wirklich erkannt, wie weit meine Klimazone im Moment tatsächlich von eurer entfernt ist. Nach einem grauen und regnerischen Oktober erlebe ich jetzt (zum ersten Mal in meinem Leben) einen November mit wolkenlos blauem Himmel, warmen Sonnenstrahlen und grünen Wiesen. Mascha, die zu Gesas Geburtstag hier ist, war ganz erstaunt, dass die Bäume bei uns tatsächlich noch Blätter haben, was mich noch mal an die Vorteile meines Aufenthaltes hier erinnert hat, auch wenn man viele im Moment nicht so sehr bemerkt. Ein Nachteil - die Mücken sind da und schlimmer denn je. Und das im November, ich fass es nicht!

Hier zu sehen der Garten hinterm Senior_innenheim. Noch eine verrückte Sache: Granatäpfel!! Hier wachsen Granatäpfel. Als ich vorgestern im Supermarkt welche gekauft habe, habe ich auf der Lebensmittelwaage reflexartig "frutti esotici" (exotische Früchte) eingegeben und mich dann gewundert, warum ich sie nicht finde..

Trotz des spätsommerlichen Wetters hängen hier in der Stadt schon in Antizipation des nahenden Dezembers die Lichterketten mit Sternen und Schriftzügen über den Straßen und im Supermarkt gibt es seit mindestes einem Monat Adventskalender - was erwarte ich auch, dass es hier anders ist, nur weil das Wetter wärmer ist!

Ich arbeite jetzt übergangsweise auf Modulo rosso, weil Modulo Blu seit einer Woche komplett in Isolation ist, aus Gründen, über die niemand mit uns spricht, die wir uns aber denken können.

Auf Rosso ist alles sehr anders als das, was ich bisher erlebt habe. Die Menschen sind weniger kommunikativ und wach und für mich gibt es leider tatsächlich fast nichts zu tun. Das schreibe ich nicht nur, weil es sich so anfühlt, sondern weil es tatsächlich so ist. Das Pfleger_innen Team ist fast überbesetzt und ich werde kaum zu anderen Sachen als Teller hin und her tragen herangezogen.

Es gibt zwei alte Damen, beide stolze hundertundvier Jahre alt, die nicht viel reden und den ganzen Tag im Essensraum stehen gelassen werden. Weil ich oft, genau wie sie, nichts zu tun habe, leiste ich ihnen Gesellschaft und albere ein bisschen mit ihnen herum. Ein Tipp, den ich von Gesa bekommen habe. Sobald man alleine mit schweigenden Gästen ist (und kein_e Pfleger_in einen sehen und für verrückt erklären kann): einfach drauf los tanzen, alleine, mit ihnen, mit dem Rollstuhl. Das bringt sie immer zum Lachen.

Und manchmal muss ich auch einfach nur einen Moment da sitzen und ihre Hand halten.

Aber sonst gibt es nicht viel zu tun. Das hat den Vorteil, dass ich deutlich weniger fertig nachhause komme, ist aber einfach deprimierend. Und frustrierend. Wenigstens eine Erkenntnis hat diese ungeplante Zeit bei mir bewirkt: ich habe keine Angst mehr vor Modulo Blu, denn harte und herausfordernde Arbeit ist immer noch besser als gar nicht gebraucht zu werden und helfen zu können.

Letztes Wochenende war ich endlich auf der Piazzale Michelangelo. Es war das perfekte Wetter, also habe ich das Fahrrad genommen (und hab mich nur GANZ leicht verfahren :D). An der Ponte alle Grazie beginnt man den Aufstieg und erreicht nach einer steilen, aber geteerten Straße schließlich den Rosengarten. Direkt am Berg wachsen und blühen auch im November noch unzählige Rosen in allen Farben. Neben kitschigen Springbrunnen gibt es auch jede Menge Parkbänke und Aussichtsplätze, perfekt geeignet beispielsweise zum Aufnehmen von Hochzeitsgrüßen nach Deutschland (die ein Freund von mir dort mit meiner tatkräftigen Unterstützung aufgenommen hat).

Von dort aus kann man schon ganz nett über die Stadt blicken, aber es ist kein Vergleich zu dem, was noch kommt.

Die Plattform ganz oben war unglaublich leer, das heißt nicht wie sonst mit Menschen bedeckt, ohne Durchkommen ans Geländer. Inzwischen sind fast alle Touris weg - kein Wunder, seit einer Woche sind die Museen zu, seit gestern die Cafés.

Es gibt jede Woche neue Einschränkungen und Verbote; seit Wochen machen wir jeden Tag Dinge zum letzten Mal, meistens ohne es zu wissen.

Das letzte Mal ohne Maske spazieren gehen, das letzte Mal in einer kleinen Gruppe von Leuten Essen gehen, das letzte Mal ins Museum, das letzte Mal ins Café. Das letzte Mal nach 22 Uhr nach Hause kommen; denn danach haben wir seit einer Weile eine Ausgangssperre. Wir dürfen uns nur noch in der Stadt bewegen und sie nicht grundlos verlassen.

Es fühlt sich an wie im Frühling, nicht zu wissen, wie die Welt am nächsten Tag aussehen wird; theoretisch (und leider auch praktisch) nicht einmal zu wissen, ob ich nächste Woche, nächsten Monat noch hier sein werde.

Das wird ein schwieriger Winter und eine schwierige Entscheidung und auch wenn es nicht ganz so unterhaltsam und lustig ist, davon zu berichten, halte ich euch hier auf dem Laufenden, wenn ihr wollt.

Es ist nicht leicht, wirklich nicht. Es ist eine Lebenssituation, die mir völlig neu und fremd auf allen Ebenen ist und jetzt ist sie auch noch so bedrohlich. Ich versuche, mich daran zu erinnern, dass ich mich nicht nur anstelle, sondern dass dieses Jahr tatsächlich das Gegenteil von normal ist und die Umstände schwieriger als ich es mir vor einem Jahr hätte vorstellen können.

Ich versuche hier ja trotz allem, irgendwie für euch zu schreiben, also wenn ihr Fragen oder Wünsche oder Kritik habt, bin ich dafür sehr offen, denn ich bin sehr gespannt, was ich noch so zu erzählen habe bzw. ob ich überhaupt noch was zu erzählen habe, sollten wir tatsächlich bald in einen Lockdown gehen. Lasst mich gerne weiterhin wissen, was ihr denkt.

 

Und nein, ich weiß noch nicht, ob und wann und wie ich nachhause gehen wollen würde.

 

Bis bald, ich denk an euch, fühlt euch fest gedrückt!

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Kommentare: 3
  • #1

    Rikki, die mysteriöse Mitbewohnerin eurer Majestät (Sonntag, 15 November 2020 10:09)

    Witzig, das am ersten Tag des Lockdowns zu lesen :((((((
    HDL, Paulina ♥️♥️♥️������

  • #2

    Opu u. Pili (Sonntag, 15 November 2020 18:48)

    Liebe Paula,
    hoffentlich klappt es diesmal mit unserem Schriftversuch(mit telef. Unterstützung deiner Mutti).
    Unsere letzten Versuche sind fehlgeschlagen.
    Wir denken mit Besorgnis an dich,denn die infos betr.Corona aus Italien sind alles andere ALS gut.
    Wir hoffen doch,daß du wohlauf bist und dir der Aufenthalt noch nicht schwer wird.Wir lesen mit
    viel Freude deine Berichte und freue uns mit dir über alles Schöne was du erleben darfst.Natürlich gehören auch die nicht so angemehmen Seiten zumindest als Lebenserfahrung dazu.
    Du sollst wissen,daß du in uns zwei interessirte Leser gefunden hast.
    So,nun starten wir den heutigen Versuch mit den besten Wünschen und ganz herzlichen Grüßen.

  • #3

    Karlheinz (Donnerstag, 26 November 2020 11:13)

    Nur zu deiner Information: Bei uns spielen auch noch die Mücken im Sonnenschein, also jedenfalls bis vor ein paar Tagen. Im November. Ist schon krass!
    Und, ich glaube nicht, dass du nicht gebraucht wirst. Das Tanzen mit den "Gästen", wie es ja bei uns heißt, ist etwas sehr kostbares, denke ich.
    Ich hoffe, dass du in Italien bleiben darfst und nicht wie J. abrechen musst. Ich drücke dir ganz feste beide Daumen und die großen Onkel noch dazu!