Wie es ist


Morgens um acht geht es los, nicht besonders früh, das ist schön, denn dann klingelt mein Wecker erst um sieben.

Ich gehe durch das Eingangstor über den Hof, rufe den frühen Vögeln, die dort sitzen und rauchen ein "Ciao, Buongiorno!" zu und gehe rein. Fieber messen, Unterschrift, Hände desinfizieren, Arbeitskleidung anziehen. Ein Stockwerk runter und auf der anderen Seite des Hauses wieder hinauf gehen, in das Zimmer von A. und C.

Blick aus dem schönsten Zimmer im Haus, meiner Meinung nach. Manchmal vergesse ich, dass ich im Grunde zwischen Hügeln lebe..
Blick aus dem schönsten Zimmer im Haus, meiner Meinung nach. Manchmal vergesse ich, dass ich im Grunde zwischen Hügeln lebe..

Dort helfe ich A. beim aufstehen, Waschen, Schuhe und Socken anziehen und schicke C. auf den Weg zum Frühstück. Rollator holen, Treppenlift bedienen, Rollstuhl vorbereiten, in den Aufzug und hinunter. Hände desinfizieren.

Ich teile Frühstück aus, entweder "Biscottini" (Kekse) oder "Fette Biscottate" (Zwieback), verteile UNMENGEN an Zucker in Kaffeetassen und räume ab.

Ich fahre A. in den Saal und hake mich bei I. unter, um sie nach oben ins Zimmer zu begleiten für ihren Vormittagsschlaf. Danach gemeinsam mit einer der Pflegerinnen eher unspaßige Arbeiten auf den Zimmern, Müllbeutel wechseln, Betten machen, Seife nachfüllen, schmutzige Wäsche wegbringen und pünktlich um genau kurz nach zehn succo di frutta (Fruchtsaft) an alle verteilen.

M. reiche ich den Saft an, weil sie den Becher nicht halten kann und dann versuche ich, C. und B. zum Trinken zu bewegen, denn damit tun sie sich immer etwas schwer.

Vormittags gibt es eine "Animation", was alles sein kann, von Kreuzworträtseln und Galgenmännchen bis zu Yoga oder Physiotherapie.

Im Anschluss gehe ich mit C. alleine in den Essenssaal, eine Stunde zu früh, denn sie benötigt beim Essen eine, die aufpasst. Wenn es nach ihr ginge, würde sie nämlich nie aufhören, sich Essen in den Mund zu schaufeln, ohne darauf zu achten, dass dieser bereits überquillt. Die nächsten zehn Minuten klingen dann in etwa so:

 

"Aspetta, C., aspetta! La bocca è piena, C., aspetta un attimo. Ecco, prima beve un po´ d´acqua. Brava. No, no aspetta! Finisce la bocca! Aspetta, beve un po´.."

(Warte, C., warte! Der Mund ist voll, C., warte einen Augenblick. Hier, erst trink ein bisschen Wasser. Sehr gut. Nein, nein, warte! Iss erst zu Ende, was du im Mund hast! Warte, trink ein bisschen..)

 

Ungefähr so sehen alle Tische im Moment aus. In unserem Speisesaal gibt es davon so um die zwölf, aber die Hälfte davon ist aktuell nicht besetzt.
Ungefähr so sehen alle Tische im Moment aus. In unserem Speisesaal gibt es davon so um die zwölf, aber die Hälfte davon ist aktuell nicht besetzt.

Danach begleite ich sie ins Zimmer, mache das Radio an, stricke ein paar Reihen an ihrem Schal weiter, beruhige sie, wenn sie aus irgendeinem Grund Angst hat und gehe wieder runter.

Mittagessen für den Rest, Vorspeise, Hauptspeise, Früchte zum Nachtisch. Abräumen, wegbringen, manche Gäste aufs Zimmer und ins Bett begleiten. Danach hole ich mit Telma, Lidia oder Carmen die frische Wäsche unten ab, fahre sie hoch und helfe, sie auf die Zimmer und in die Schränke zu verteilen. Das war eine Frühschicht.

Erschöpfte Paula mit Kaffee nach Frühschicht.
Erschöpfte Paula mit Kaffee nach Frühschicht.

Die ersten Stunden der Spätschicht sind meistens sehr entspannt. Bei ein paar Sachen aushelfen, Tee an alle verteilen. Einmal die Woche kommt Giacomo mit einer riesigen Konstruktion auf Rollen, an die von allen Seiten Musikinstrumente geschnallt sind. Er selbst spielt Gitarre, Cajón und Saxophon und begeistert mich jedes mal wieder mit seiner Lebensfreude und Energie, mit der er den Raum füllt. Er tanzt mit R. durch den Raum, singt unter seiner Maske mit und scherzt bis wirklich alle lachen.

Ich stricke mit ein paar älteren Damen im Moment Mützen für ein Projekt für Kinder, mache Spaziergänge mit einzelnen und schaue mit ihnen die Granatäpel, Olivenbäume und den Teich mit den roten Fischen an.

Eine Stunde vorm Abendessen wieder Essensbeaufsichtigung für C. und wie jeden Tag dieselben Sätze. Danach bringe ich sie ins Bett, inzwischen mache ich auch das oft alleine. Sie will ungefähr immer, aber abends ganz besonders ihren Bruder anrufen. Ihr Gesicht strahlt so klar wie sonst nie, wenn er abhebt und ihren Namen sagt, aber meistens sagt er nur, dass er beschäftigt ist und wünscht ihr gute Nacht.

Ich begleite alle anderen zum Abendessen, bringe sie danach auf ihr Zimmer und helfe A., genauso wie morgens beim Waschen, Umziehen und allem anderen. Danach ist es fast acht. Und ich bin fertig.

So sieht es im Hof aus, wenn Abendessenszeit ist.
So sieht es im Hof aus, wenn Abendessenszeit ist.

"Ich arbeite in einem Senior_innenheim." Das ist eine der weniger interessanten und abenteuerlichen Antworten, die man bei Seminaren oder auf Kennenlern-Treffen auf die Frage, wo man denn seinen Freiwilligendienst macht, geben kann, jedenfalls ist das meine Erfahrung.

Alle können sich etwas darunter vorstellen, auch wenn sie es wahrscheinlich noch nie gemacht haben.

Ehrlich gesagt habe ich auf meiner Bewerbung alle Bereiche außer diesem angekreuzt und trotzdem bin ich hier gelandet. Bis jetzt habe ich eigentlich nur von den schönen Dingen geschrieben, die leicht und fluffig und eben interessant und abenteuerlich zu erzählen sind, aber das ist nicht alles. Und ich will über alles schreiben.

 

In einem Senior_innenheim arbeiten ist hart. Daran führt kein Weg vorbei. Ich bin ein ziemlich junger Mensch und habe mich in meinem Leben bisher nicht mehr als notwendig (das heißt sehr wenig) mit dem Alter, mit Krankheit, Schmerz und dem Ende des Lebens auseinandergesetzt. Und das ist nicht leicht.

In einen Raum voller Menschen zu kommen, die alle nur vor sich hin starren und schweigen ist nicht leicht. Nicht helfen zu können bei Angstzuständen, Depressionen, nichts tun zu können, außer eine Hand zu halten und immer wieder zu sagen, dass es schon alles gut wird, ist nicht leicht. Gute und schlechte Tage kommen und gehen zu sehen und bei manchen zu beobachten, wie es ihnen langsam immer schlechter geht.

 

Letzte Woche ist eine Frau gestorben, die zwei Tage davor noch meine Hand gehalten hat. Ich kannte sie nicht gut, eben nur ein paar Wochen, sie war nicht auf meiner Station, aber wir mochten uns und ich war, wenn ich ein paar freie Minuten hatte, bei ihr oben, weil sie an vielen Tagen nicht mehr runter kommen konnte. Es ist nicht leicht, in die Runde von Menschen zu schauen, an die man gerade Saft verteilt, und sich zu fragen, wer von ihnen nicht mehr da sein wird, wenn ich gehe.

 

Natürlich ist es auch nicht leicht, Unterwäsche zu wechseln, Füße einzucremen, Menschen zu duschen. All das sind Dinge, von denen ich vor einem Jahr nicht gedacht hätte, dass ich sie jemals tun würde und jetzt tue ich sie jeden Tag. Meine Hemmschwelle für Essensreste und Körperteile sinkt jeden Tag zwei Zentimeter.

Es ist nicht immer leicht, den ganzen Tag nur in alte Gesichter zu blicken. Manchmal fühle ich mich wie der einzige Mensch auf der Welt unter sechzig.


Auch eine Sache, die wir oft machen. Maniküre und Nagellack für alle, die wollen.
Auch eine Sache, die wir oft machen. Maniküre und Nagellack für alle, die wollen.

Trotzdem ist es auch wunderbar.

Morgens in ein Zimmer zu kommen und angestrahlt zu werden. Zu sehen, wie nach und nach alle, Gäste wie Pflegende, meinen Namen können, mich um Dinge bitten und mich loben, sei es für meine Aussprache oder meine Arbeit. Ein älterer Herr hat so seine grummeligen Tage, aber selbst an denen binzelt er mir freundlich zu wenn ich ihm drei Scheiben Vollkornbrot bringe und gibt mir im vorübergehen ein High Five.

Eine Dame lässt sich am liebsten von mir irgendwo hinbringen und schneidet mit mir Grimassen, wenn sie jemand nervt. Es ist auch lustig. Alte Menschen können absolut urkomisch, frech und unverschämt sein.

Und ich werde immer mehr zu einer Hilfe. Das Frühstück schmeißen, Leute morgens fürs Frühstück fertig machen, abends ins Bett bringen, Saft und Tee vorbereiten, schwierige Einzelfälle versorgen - alles Dinge, die ich schon ganz alleine gemacht habe. Wenn sich die Pflegerinnen, die ich für den Tag begleite, tatsächlich freuen, mich zu sehen, weil ich inzwischen eine Hilfe und nicht nur eine zusätzliche Aufgabe bin. Das ist ein gutes und erfüllendes Gefühl.

 

Wie es also ist?

Nicht einfach, nicht unbeschwert, nicht immer schön, aber trotzdem gut.

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Kommentare: 4
  • #1

    Roman (Donnerstag, 22 Oktober 2020 13:22)

    Liebe Paula,

    das ist ein sehr bewegender und gleichzeitig spannender und erhellender Eintrag. Ich kann mir vorstellen, dass das alles nicht leicht ist und das man bei so einem Job auch vieles machen muss, was man vorher niemals wollte.

    Witzigerweise habe ich mich selbst darin gefunden, denn beim Lehrerberuf wissen auch immer alle, wie das angeblich so ist (schließlich war man ja selbst in der Schule). Aber der Job hat im Hintergrund halt eben auch 1000 Facetten und auch unschöne Dinge, die vorne nicht sichtbar sind. So ist das immer.

    Aber man wächst mit seinen Aufgaben, der Spruch ist nicht nur so dahergesagt, es ist wirklich so. Solche Erfahrungen prägen und formen einen, lassen reflektieren und das eigene Leben und die eigene Position in dieser Welt anders scheinen, relativieren. Ich bin mir sicher, dass Du eine große Freude und Hilfe für alle alten Menschen dort bist und hoffe, dass Du trotz Deiner gegensätzlichen Wünsche viel Freude bei der Arbeit hast.

    Und vor allem: bleib bei Deinem Schreibstil :)

    Liebe Grüße

  • #2

    Juju (Montag, 26 Oktober 2020 19:47)

    Hallo liebe Paula,

    Danke für diese Einblicke in deine tägliche Arbeit. Du kannst stolz auf dich sein. Du leitest gerade nicht nur eine wertvolle Arbeit, du schilderst sie auch authentisch. Wenn ich beim Lesen schon so ins Nachdenken gerate, wie sieht dann deine Emotionswelt aus?! Diese Zeit lässt dich sicher noch einmal einen neuen Blick auf das Leben entwickeln. Es klingt ganz fantastisch, wie du dich einfügst und immer selbstständiger agieren kannst. Ich bin mir sicher, die Menschen dort schätzen deine Anwesenheit sehr.

    Ich freue mich, immer weiter und mehr von dir zu lesen. Ganz ganz liebe Grüße und einen dicken beijo �

  • #3

    Karlheinz (Donnerstag, 26 November 2020 10:53)

    Ich wünsche dir viel Kraft und Freude.

  • #4

    Charlotte (Sonntag, 07 Februar 2021)

    Einfach <3